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Schatten der Avantgarde

Die Woge – Rousseau und vergessene Maler in Essen

Wie auf die Wogenkämme des Meeres tiefe Täler folgen, so lösen sich in der Kunstgeschichte Phasen der Begeisterung für einen Maler, eine Stilrichtung oder eine Epoche mit mitunter tiefen Tälern des Vergessens ab. Beispielsweise war In den 60er und 70er Jahren Friedrich Schröder-Sonnenstern ein Star. Erinnern Sie sich noch an die phantastischen Bildtitel wie „Der Mondschützenkönig“ oder „Der Alkohol des Kaki zähmt den Mondesel“? Auch Ivan Generalić war ein Star. Heute sind beide so gut wie vergessen.

Unter dem Titel „Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“ hat jetzt das Museum Folkwang in Essen eine Ausstellung vergessener naiver Maler zusammengestellt. Gezeigt werden laut Begleitheft Werke von 13 Künstlern, die überwiegend keine akademische Ausbildung hatten und heute nicht im Museumsbetrieb zu finden sind. So ganz stimmt das nicht, denn den Mittelpunkt der Ausstellung bilden Gemälde von Henri Rousseau, dessen Hauptwerke schon seit langem im Musée d’ Orsay, im Museum of Modern Art und im Guggenheim beheimatet sind.

Geschickt wurde die Ausstellung in einzelne Räume gegliedert, die jeweils einem Künstler gewidmet sind und etwa ein halbes Dutzend Werke zeigen. Von Rousseau z. B. sind mehrere Dschungelbilder und das bekannte Porträt des Schriftstellers Pierre Loti mit rotem Fez ausgestellt, aber leider nicht „Die Schlangenbeschwörerin“, „Der Traum“, „Der Löwe mit schlafender Zigeunerin“ oder „Die Ballspieler“.

Besonders beeindruckend fand ich den Raum mit den Blumengemälden von Séraphine (Louis), während ich bei anderen Künstlern doch Zweifel habe, ob der Titel „vergessener Meister“ gerechtfertigt ist. Vergleicht man die für die Essener Ausstellung ausgewählten Künstler mit dem 1959 bei DuMont erschienenen Standardwerk über naive Malerei von Oto Bihalji-Merin, stellt man fest, dass dort, abgesehen von Rousseau, nur Bauchant, Hirshfield, Seraphine, Trillhaase und Wallis berücksichtigt wurden. Die Essener Kuratoren haben offensichtlich einen amerikanischen Schwerpunkt gesetzt und dafür z. B. auf die naive Malerei des früheren Jugoslawien verzichtet.

Zwischen die Werke der vergessenen Künstler wurden in Essen Gemälde berühmter Maler wie Gustave Courbet, Honoré Daumier, Paul Gauguin, Giorgio de Chirico, Max Ernst, Fernand Léger, Pablo Picasso, Robert Delaunay, Piet Mondrian, Emil Nolde und Paula-Modersohn-Becker gehängt, um Bezüge herzustellen, die mir nicht immer nachvollziehbar waren. Dass z. B. (wie es im Beiheft heißt) das ziemlich unbekannte Bild von Max Ernst aus dem Jahr1920 „Der Kaiser von Wahaua“ eine zentrale künstlerische Strategie der Avantgarde des 20. Jahrhunderts vorführe, nämlich die Aneignung und Neukombination fremden Bildmaterials auch von Autodidakten, war mir während des Besuchs vollkommen entgangen und wurde bei der Führung auch nicht näher erwähnt. Nachgefragt hatte ich bei dem Bild von Giorgio de Chirico (einer Variante seiner leeren Piazza-Gemälde) und die Antwort erhalten, dieses Bild habe einen Bezug zu dem ausgestellten Gemälde von Max Ernst. Da ich aber zu diesem Zeitpunkt den „Kaiser von Wahaua“ noch nicht entdeckt hatte, hatte ich keinen Ansatz für eine weitere Frage zur Aufhellung des Sachverhalts.
Übrigens war von Gustave Courbet das Gemälde „Die Woge“ als Vorbild für naive Seestücke ausgestellt, aber wahrscheinlich nicht als Sinnbild für das ewige Auf und Ab der Wertungen im Kunstbetrieb.

Ausstellungsbesprechung von Erik Gutzler

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