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Studienreise Flandern

Enten in Lille und ein Drache in Lens

Die Studienreise des Freundeskreises führte 2015 nach Flandern und in den Louvre von Lens. Das historische Flandern musste im Lauf der Jahrhunderte viele Gebietsveränderungen mit wechselnden Herren erdulden und war am Ende des Mittelalters für einhundert Jahre sogar Teil des Herzogtums Burgund, bevor es an Habsburg fiel und im 16. Jahrhundert dann unglücklicherweise an Spanien. In der Epoche der burgundischen Herrschaft lebten die berühmten Maler Robert Campin, Jan van Eyck, Rogier van der Weyden und Hugo van der Goes, die ihre Auftraggeber in den mit dem Tuchhandel reichgewordenen Städten fanden und deren Themen und Maltechniken unser Bild von der altniederländischen Malerei geprägt haben. Die erste Hälfte der Studienreise galt den Städten Brügge und Gent, deren historische Stadtbilder und unvergleichliche Stadtsilhouetten allgemein bekannt sind und hier keiner weiteren Beschreibung bedürfen. Hingewiesen sei nur auf besondere Glanzpunkte: in Gent auf den Altar Jan van Eycks (der sich allerdings nicht mehr am ursprünglichen Platz in einer Seitenkapelle der St. Bavo-Kathedrale befindet, sondern mit Panzerglas gesichert unter dem Westturm) sowie auf das Gemälde „Die Kreuztragung“ von Hieronymus Bosch nicht im Zentrum gelegenen und von Touristen wenig frequentierten Museum der schönen Künste. Dieses vermutlich letzte Werk Boschs ist eine unglaubliche Komposition, ein Gemälde von dichtgedrängten Halbfiguren ohne erkennbaren Bezug zu einem Raum oder der Landschaft auf dem Weg nach Golgatha. In der Mitte Christus unter der Last des Kreuzes gebeugt, aber mit geschlossenen Augen, als träume er nur diesen Albtraum. Unglaublich sind auch die Farbzusammenstellungen: delikates Gelb, weiches Hellblau und Schwarz haben z. B. dem Gesicht der Veronika eine beängstigende Blässe gegeben und es in eine wächserne Maske verwandelt. (Ähnlich leuchtende Farbzusammenstellungen Boschs vor einem schwarzen Hintergrund kenne ich nur noch von dem in der Münchner Pinakothek hängenden Fragment eines Jüngsten Gerichts.)

In Brügge sei natürlich auf die Madonna von Michelangelo in der Liebfrauenkirche, auf „Die mystische Vermählung der hl. Katharina“ von Hans Memling im Memling-Museum und auf die „Madonna des Kanonikus van der Paele“ von Jan van Eyck im Museum Groeninge hingewiesen.

Im weiteren Verlauf der Reise wurde nach einem Abstecher nach Ypern in Lille Station gemacht. Ypern war schon im Hochmittelalter berühmt für seine Tuchhalle, zeitweise das größte Gebäude Europas. Im ersten Weltkrieg wurde die Stadt in drei Schlachten fast vollständig zerstört, aber Tuchhalle und hochgotische Kathedrale wurden nach dem Krieg ohne Vereinfachungen vollständig wiederaufgebaut. Heute beherbergt die Tuchhalle das Museum „In Flandern Fields“, eine interaktive Ausstellung mit erschütternden Erlebnisberichten und Dokumenten über die Schlachtfelder bei Ypern. Lille hat den Jahrzehnte dauernden wirtschaftlichen Niedergang gestoppt, heruntergekommene Viertel saniert und ist heute eine sehr lebhafte Stadt mit dem, was die Anzahl der ausgestellten Kunstwerke betrifft, zweitgrößten Museum Frankreichs nach dem Louvre. Zu den Hauptwerken gehören unter anderem zwei späte Gemälde von Goya: „Zwei alte Frauen“ und „Die Briefleserin“.

Besonders interessant ist aber zur Zeit eine Sonderausstellung mit über zwanzig  Bildern der Berliner Künstlergruppe interDuck. Die Maler der Gruppe wollen den Nachweis führen, dass Entenhausen nicht kulturlos ist, und verwenden als Vorlage berühmte Gemälde großer Meister, auf denen sie die Hauptfiguren durch Donald Duck und Anverwandte ersetzen. So sieht man in Lille unter anderem Donald als Mann mit dem Goldhelm, als Watteaus Gilles, Manets Pfeifer und Daisy als Mona Lisa, als Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring, als Bouchers Nackte auf dem Sofa und als Goyas Briefleserin sowie die gesamte Sippschaft im Konzert im Ei und im Schlaraffenland. Die Bilder hängen glücklicherweise nicht in einem als Sonderausstellung deklarierten Raum, sondern verstreut und wie zufällig platziert zwischen den alten Meistern des Museums. Ein großes Vergnügen! 

Einige Kilometer südlich von Lille liegt Lens, eine Kleinstadt, mit der bis vor kurzem niemand Kunstwerke irgendeiner Art in Verbindung gebracht hätte. Diese Stadt, die einhundert Jahre vom Steinkohlebergbau gelebt hat und dessen Abraumhalden noch heute die Landschaft bestimmen, gewann einen Wettbewerb um eine Dependance des Louvre und besitzt heute ein sehenswertes und sehr schönes Kunstmuseum besonderer Art. Auf dem aufgelassenen Gelände einer Zeche stehen fünf miteinander verbundene Gebäude, darunter eine 130 Meter lange Halle für die Dauerausstellung und ein 90 Meter langes weiteres Gebäude für Sonderausstellungen. Die große Halle besitzt keine Fenster und keine Trennwände. Die über 200 Objekte stehen frei oder auf Podesten, Gemälde hängen an kleinen Stellwänden. Angelegt ist die Ausstellung als ein offenes Labyrinth, als ein Spaziergang durch die Zeit, der im dritten Jahrtausend v. Chr. beginnt und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts endet. Eine Besonderheit ist außerdem, dass nach jedem Jahr zehn Prozent des Bestandes ausgewechselt werden – so hat man Grund, einen Besuch in Lens in größeren Abständen zu wiederholen, um den Veränderungen nachzuspüren. (Kritiker haben diesem Konzept Beliebigkeit vorgeworfen. Für mich nicht verständlich, weil in jeder Sammlung durch ihre Entstehungsgeschichte mit der Verfügbarkeit des Kunstmarktes, dem Wechsel des Geschmacks und der Vorlieben der Käufer eine gewisse Beliebigkeit oder besser Zufälligkeit unvermeidlich ist.)

Im ersten Jahr nach der Eröffnung im Dezember 2012 begann der Spaziergang mit der schwarzen Statue des Prinzen Gudea aus Lagasch, und  an der Rückwand der Halle hing als krönender Abschluss das berühmte Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ von Delacroix aus dem Jahr 1830. Augenblicklich bildet das Gemälde „Roger befreit Angelika“ von Ingres den Beschluss. Es illustriert eine Stelle im Versepos „Der rasende Roland“ von Ariost, für die das mythologische Thema der gefesselten Andromeda die Quelle war. Das Bild ist leider viel schwächer als das von Delacroix – sowohl, was das Thema angeht, als auch in der Ausführung: Angelika schmachtet, der Drache ist klein und wirkt ängstlich, fast hilflos. Kein Gegner für den heldenhaften Roger auf seinem Hippogreif. Da sind die Drachen von Daenerys Targaryen aus „Game of Thrones“ doch ein ganz anderes Kaliber.

Im Umfeld von Lille gibt es weitere lohnenswerte Besuchsziele: nordwestlich im Künstlerort Sint-Idesbald am Meer vor Veurne das Paul Delvaux Museum, nördlich in Roubaix das zu einem Museum umgebaute Jugendstilschwimmbad, östlich in Tournai die Kathedrale mit ihrer Fünfturmgruppe und südöstlich etwas weiter entfernt das Matisse-Museum in Le Cateau-Cambrésis.

Die Studienreise des Freundeskreises endete mit einem Abstecher nach Mons – derzeit Kulturhauptstadt Europas – und einem Besuch der der hl. Waltraut geweihten spätgotischen Stiftskirche, die trotz langer Bauzeit in imponierender Einheitlichkeit errichtet wurde und für mich von den zwölf gotischen Kirchen, die im Verlauf der Reise besichtigt wurden, die schönste war. Schade nur, dass der Turm, der eine Höhe von 187 Metern erreichen sollte, nie gebaut wurde.

Text: Eric Gutzler im Juni 2015


Flandern: Städte in Belgien und Nordfrankreich

Reise des Freundeskreises 
des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Düsseldorf 
27. Mai bis 3. Juni 2015

Die Studienfahrt führt uns in eine einzigartige Städtelandschaft, welche eine wechselhafte Geschichte erlebt und oft auch erlitten hat: Flandrische Gebiete sind zeitweise Teil des Römischen Reiches Deutscher Nation, zeitweise zu Frankreich gehörig. Es gibt Verbindungen mit Burgund, mit dem Haus Habsburg (spanische Linie, österreichische Linie), Zugehörigkeiten zu Artois, Hennegau, Brabant, zu den Niederlanden, zu Belgien, zur Region Nord-Pas de Calais, Kriege und wechselnde Herrschaften und Religionen… Im Ersten Weltkrieg wurden weite Bereiche dieser Kulturlandschaft schwer verwüstet.

 

Mittwoch, 27. Mai

Reiseleiter ist Wolfgang Surges, den wir von der Burgund-Exkursion im Mai 2009 kennen, Frank Rollmann ist unser Busfahrer. 26 Mitreisende. Pünktliche Abfahrt um 7 Uhr. Vorbei an Roermond nach Leuven (Löwen). 2¼ Stunden Spaziergang durch das Zentrum der ehemaligen Residenzstadt der Fürsten von Brabant. 1425 entstand hier die erste Universität im niederländischen Sprachraum.

Wir beginnen den Rundgang vor der im Neorenaissancestil 1921 bis 1928 erbauten Neuen Universitätsbibliothek mit ihrem Glockenturm. Davor auf einer 23 m hohen Nadel aufgespießt der Käfer von Jan Fabre („Totem“), als Symbol für die Wissenschaften.

Die neue UB ist der Ersatz für die von der Deutschen Wehrmacht wenige Tage nach dem Überfall auf das neutrale Belgien im August 1914 in Brand gesteckte Halle der Universität, 1317 als Lakenhal, Tuchhalle erbaut, mit ihrer berühmten Bibliothek; 300 000 Werke wurden vernichtet. Auch der Neusser Landsturm hat mitgewütet. Die deutschen Soldaten brannten weite Teile der Stadt wegen angeblicher Heckenschützen nieder, was ihnen in der Kriegspropaganda der Entente gegen die Mittelmächte als schweres Kriegsgräuel vorgeworfen wurde: „furore teutonica delit“. Die nach 1914 in der Stadt wiedererrichteten Gebäude sind durch ein besonderes Erinnerungsrelief gekennzeichnet. Der Versailler Vertrag 1919 verpflichtet das Deutsche Reich zu Ersatzlieferungen aus den Beständen deutscher Bibliotheken für die Löwener Bibliothek. Im Mai 1940 werden wiederum 900 000 Werke vernichtet, als die Wehrmacht englische Truppen zum Abzug zwingt, die Schuldfrage ist umstritten. Im flämisch-wallonischen Sprachenstreit 1968-1970 wird die Löwener Universität geteilt, der französischsprachige Teil siedelt sich in der Neugründung Lovain-la-Neuve in Wallonisch-Brabant an, und auch die Bestände der Universitätsbibliothek werden aufgeteilt, sodass Löwen ein drittes Mal im 20.  Jahrhundert wichtige Werke verliert…

Am Großen Markt der Brunnen der Weisheit; ein Student gießt sich Wasser in den hohlen Kopf, diese Geste steht für den Wissensdurst der Hochschüler, er liest in einem Buch mit mathematischen Formeln.

Das Rathaus gleicht einem Reliquienschrein, seine Prunkfassade wird von Zinnen und  Türmchen und sechs „Minaretten“ gekrönt, das Dach trägt Gauben in vier Reihen übereinander. Der geplante Belfried konnte wegen des schlechten Baugrundes nicht realisiert werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts füllten auf Initiative des Schriftstellers Victor Hugo 236 Statuen die bisher leeren Nischen; sie bilden das „Löwener Pantheon“, unten Löwener Bürger, darüber Heilige und Stadtpatrone, dann die Grafen von Brabant und oben in den Türmchen biblische Gestalten. Das Rathaus überstand den August 1914 unversehrt, weil es als deutsches Hauptquartier und Offiziersunterkunft genutzt wurde.

Die Peterskirche blieb in weiten Teilen unvollendet; ihre Dreiturmfassade im Westen sollte bis 168 m aufragen. Für Brabant typisch ist die reduzierte Spätgotik mit dem Verzicht auf Fensterrosetten. Die Kapelle van Fier Margrietje ist der tapferen Margret geweiht,  sie diente in einer Pilgerherberge und wurde 1225 als Achtzehnjährige von nicht besonders frommen Pilgern umgebracht, weil sie sich ihrem frivolen Ansinnen zu heftig widersetzte, und in die Dijle geworfen, die ihren Leichnam in Löwen anschwemmte. Margaret wurde zur Patronin der Dienstmeisjes, die Statue an der Außenwand der Kirche zeigt sie mit einem Wasserkrug.

Am Alten Markt 45 Gaststätten, meist mit Straßenterrassen, angeblich die längste Theke der Welt, um Mittag noch sehr unbelebt. Motto: Leuven, the place to be(er). Viele Kollegiengebäude in der Altstadt, auch die ehemalige Tuchhalle, bis 1914 Universitätsbibliothek und seit dem Wiederaufbau Rektorat. Verteilung der Kopfhörer. Weiterfahrt über eine schnurgerade Landstraße nach Mechelen. Werbespruch „Hören. Sehen. Mecheln“.

Unter Karl dem Kühnen war Mecheln zeitweise die Hauptstadt von Burgund. Zweimal bestimmten Margareten die Geschicke der Stadt und der Region. Karls dritte Frau war Margarete von York, sie hatte hier ihren Witwensitz. Unter der Statthalterin Margarete von Österreich war die Stadt dann Hauptort der Habsburgischen Niederlande; wegen dieser Verbindung mit Österreich gelten die Mecheler heute als die unpünktlichsten Belgier.

Vorbei an der Walkmühle und Resten der Stadtmauer in den Kruidtuin, den Kräutergarten; dann ein Spaziergang auf dem Wasser, auf dem Dijlepad, dem schwimmenden Bürgersteig auf der Dijle. Ins Zentrum zum Großen Markt, mit vielen prachtvollen Giebeln. Mittagspause. Zum ersten Mal belgische Fritten.

Zu zweit Besteigung des Kirchenbelfrieds der Kathedrale St. Rumold (St.-Romboutskathedraal). Rumbold war ein angelsächsischer Missionar und wurde 775 erschlagen, seine Leiche leuchtete, als man sie fand. In separaten Treppenhäusern 538 Stufen rauf und wieder runter. Nach 160 Stufen die Krankammer. Hier bedienten die Krankinder das Laufrad für die Transporte im Turm. Und dann: viele, viele Glocken. Zwei Glockenspiele mit Spieltisch und einem verwirrenden Drahtzugapparat. Sechs große Glocken. Und Alles bimmelt während des Aufstiegs. In 97 m Höhe weite Aussichten auf die Stadt und bis zu den Hochhäusern von Brüssel und Antwerpen. Eigentlich sollte der Turm 160 m hoch werden…

Auf dem Großen Markt natürlich das Denkmal der Margarete von Österreich. Daneben in Holz die Darstellungen einiger lokaler Sagen, z. B. die Darstellung der Mondlöscher: 1687 glaubten die Mecheler an einem Tag mit schönem Abendrot , dass der Turm in Brand stehe, und begannen mit den Löscharbeiten. Da tauchte der Mond zwischen den rosafarbenen Wolken auf, das rote Leuchten verschwand…

In der Kathedrale eine hölzerne Kanzel von Michiel van der Voort 1723 mit vielen Menschen und viel Getier, sie zeigt die Heilsgeschichte von Adam und Eva bis zur Erlösung. Ein kleiner Engel versucht sich als Holzbildhauer. Diese Kanzel stand früher in einem Praemonstratenserinnenkloster; die Schnitzerei auf dem Kanzelkorb zeigt die Bekehrung des Ordensgründers Norbert von Xanten, der vom Pferd gestürzt ist. Auf dem Fußboden grüßt eine Grabplatte: Ein „Aelmoessenier“ geboren 1672 in Düsseldorf, begann seine Karriere vielleicht dort als Radschläger. Im Gemälde „Christus am Kreuz“ stellt Anthonys van Dyck 1630 das Kreuz schräg in den Raum, er verwendet einige Motive von Rubens, aber seitenvertauscht. Der Großvater Ludwig von Ludwig van Beethoven war an dieser Kirche Kantor.

Weiterfahrt über die Autobahn vorbei an Brüssel. Eine Runde Cantuccinis aus Detmold. Wecken kurz vor Brügge.

Für 4 Nächte wohnen wir im Hotel Floris Karos in der Houfijserlaan, zum Abendessen gehen wir ein paar Minuten ins Restaurant „De Leffe“ am großen Platz  t’Zand.  Zum ersten Bier gibt es einen Mini-Rollmops als Zugabe, dann folgen drei Gänge: Kaaskroketten, Türkischer Spieß mit Beilagen,  Mousse chocolate. Dann ein erster Gang ins Zentrum mit einer Einkehr nur für ein Getränk in der Brasserie Craenenburg am Großen Markt mit einem schönen Ausblick auf denselben. Hier wurde 1488 der junge König Maximilian im Vorgängerbau gefangen gehalten, er hatte einen ähnlichen Ausblick auf den Platz, nur musste er zusehen, wie hier seine Gefährten gefoltert und hingerichtet wurden.

 

Donnerstag, 28. Mai

Der unter der Zimmertür durchgeschobene Wetterbericht kündigt trübes und kühles Wetter an. Eine Gruppe aus Australien bevölkert den kleinen Frühstücksraum.

Die Handelsmetropole Brügge erlebte ihre wirtschaftliche und kulturelle Blüte im ausgehenden Mittelalter. Das Haus der Familie van der Buerse diente als Treffpunkt der Händler, das Wappen des Hauses zeigt drei Geldbeutel, niederländisch beurs. Die Bürger der Stadt sperren 1488 den deutschen König und späteren Kaiser Maximilian in ihrem Kerker ein. Diese Demütigung hat Maximilian der Stadt nicht verziehen, er tat alles, um die Konkurrenzstadt Antwerpen zu fördern. Seitdem müssen die Brügger auf ewig Schwäne, Langhälse auf dem Minnewater schwimmen lassen. Später verlor Brügge durch Verlandung auch noch seinen direkten Zugang zum Meer, die Stadt verarmte. Ein Romantitel von 1892 lautet passend „Das tote Brügge (Bruges-la-Morte)“. Allerdings blieb dadurch viel vom mittelalterlichen Stadtbild erhalten, wovon die Stadt heute profitiert.…

Unser erster Stadtspaziergang beginnt am südlichen Stadtrand am Minnewaterpark, wo sich die weißen Langhälse auf dem Wasser tummeln, gegenüber dem Schleusenhaus. Vorbei am Pulverturm zum idyllischen Beginenhof, wo einst Beginen wohnten und heute ein paar Benediktinerinnen leben. Die mittelalterlichen Gemeinschaften der Beginen verlangten kein ewiges Gelübde, Austritt und Heirat waren möglich. Hier lebte die Gemeinschaft „Mater vinea nostra“ in kleinen Häuschen für jeweils mehrere Frauen; unter einer Marienstatue am Haus der Vorsteherin steht „Hier is’t de Wijngaard van Maria“. Der kreuzzugsbedingte Männermangel mag zum Aufkommen der Beginenbewegung beigetragen haben.

Im Rahmen der Triennale Brügge 2015 haben 14 Künstler verblüffende Installationen in der Altstadt realisiert zum Thema „Dynamik und Potential der Stadt des 21. Jahrhunderts“. Im stillen Park des Beginenhofes Baumhäuser von Tadashi Kawamata, Tree Huts in Bruges.

Bei Nieselregen vorbei an Käthe Wohlfahrts Weihnachtsladen, der ganzjährig Alles für die Keerstfeerie bietet. Brauerei zum Halben Mond, wo der Brügger Zot gebraut wird. Der Zot ist der Brügger Narr. Maximilian soll einst auf die Bitte der Brügger Bürger, ein neues Irrenhaus bauen zu dürfen, geantwortet haben, sie brauchten doch nur ihre Stadttore zu schließen, die Brügger seien allemal „Zotten“. Auf dem Walplein eine Skulptur von Josef Claerhout 1982: „Zeus, Leda, Prometheus und Pegasus besuchen Brügge“; mit einer nackten Leda, und Zeus als langhalsigem Schwan. Durch die Stoofstraat, hier standen einst die öffentlichen Badehäuser mit ihren Öfen, bis die Pest nach Europa kam… Ein Laden für die Chocoholics. Haus „Den gouden Harynck“. Vorbei am Groeningemuseum.

An der Reie entlang (in Brügge heißen die Grachten Rei) über den Rozenhoedkaai, der meistfotografierten Ecke der Stadt, wo das Holz für die Rosenkränze angeboten wurde, zum Fischmarkt. Von dort führt die bogenüberspannte Blinde Ezelstraat zum Burgplatz, dem Platz der ehemaligen Burg. Hier steht neben dem  Rathaus das Freiamt, in dem Schöffen die Vertretung der vier freien flandrischen Städte (Brügge, Mecheln, Gent und Ypern) gegenüber dem Grafen wahrnahmen. Im alten Schöffensaal der imposante Schwarze Kamin, aus schwarzem Dinanter Marmor mit einem riesigen Aufsatz aus Eichenholz, als Herrschaftssymbol. Karl V. steht nach seinem Sieg in der Schlacht von Pavia 1525 in voller Mannespracht und Rüstung als Landesherr in der Mitte; er hat das Schwert in der Rechten zum Treueschwur auf Flandern erhoben, daneben Mitglieder und Wappen der kaiserlichen Familie.

Am Großen Markt die große backsteingotische Kaufmannshalle mit dem Belfried, sie diente unten dem Handel und Wandel, die oberen Räume dienten für Verwaltung und Feste. Aufstieg auf den 83 m hohen Turm über enge Treppen mit 366 Stufen, vorbei an der Truhe mit den Brügger Freiheitspapieren und einem Glockenspiel, dann weite Aussicht. „London 230 km“ ist allerdings nicht zu sehen. Der Turm weicht an der Spitze 1,17 m aus der Vertikalachse ab. Auf dem großen Platz die faszinierende Triennale-Installation von Vibeke Jensen „1.1 Connect: Diamondscope“, ein diamantförmiger Körper aus Spiegelglasflächen bewirkt überraschende oft mehrfach gebrochene und versetzte Ansichten und Ausblicke. Das Spiegelglasgebilde ist begehbar, wenn man Brügges Postleitzahl 8000 eingibt.

Die Sonne zeigt sich zwischen Wolken, Mittagpause an der Frittenbude, Nachtisch aus der Chocolaterie de Burg, wieder am Burgplatz. Im filigranen gotischen Rathaus, das wie ein Reliquienschrein wirkt, wurde der Schöffensaal mit seinem Kreuzrippengewölbe aus vergoldetem Holz ab 1895 neu ausgemalt, er zeigt Szenen mit Bezug zur Brügger Stadtgeschichte.

Daneben die Heiligblutbasilika. In der Oberkirche wird ab 14 Uhr ein Tropfen in einer Phiole zur Verehrung ausgestellt, in einem kleinen Renaissancebaldachin auf sechs Silbersäulen. Man muss sich in einer Schlange anstellen, um für wenige Sekunden die Reliquie verehren zu dürfen; eine Schwester bewacht sie und wischt regelmäßig die Balustrade ab. Die romanische Unterkirche ist Brügges ältestes Bauwerk.

Kaffeepause in der Sonne, neben dem Denkmal für Jan van Eyck, im gemütlichen Straßencafé „Blackbird“, vor schönen alten Giebelfronten. Auf den Tassen sind Amseln abgebildet, die Milch wird in einer Miniglasflasche mit Bügelverschluss serviert. Bummel vorbei am Denkmal für Hans Memling und dem Haus Ter Beurze von 1276 und dem Papageno im Vogelkostüm vor der Oper, zurück an die Reie.

Kurze Rundfahrt mit dem Boot über einige der Brügger Stadtreien bis zu den Schwänen vom Minnewater und dann in der anderen Richtung bis zum Jan van Eyck. Rückweg zum Hotel vorbei an der Karthäuserkirche, heute Gedenkstätte für die Kriegsopfer und die Opfer der Gewaltherrschaft; ein skulpierter Baumstumpf zeigt die Inschrift „Mij kunnenze doden, maar niet de Stem van de Gerechtigheid“.

Siesta im Hotel. Sigrun Blauth ist eingetroffen. Abendessen im De Leffe: Terrine Schweineleberpastete, Gulasch, Törtchen. Auf dem großen Patz t’Zand ein großer Brunnen, 1985/86 von Livia Canestraro und Stefan Depuydt errichtet: Vier nackte Damen stehen für die vier flandrischen Städte Brügge, Antwerpen, Gent und Kortrijk. Seemann und Fische sowie die Polderlandschaft charakterisieren Stadt und Umland; ein paar Radfahrer werden von den Volkshelden Nele und Till Eulenspiegel eskortiert. Dazu Anspielungen auf Dante und Lorenzo di Medici. Am Großen Markt Absackerrunde wieder im Grand Café Craenenourg.

 

Freitag, 29. Mai

 

Im Wetterbericht für heute sind Wolken und Regentropfen eingekreist… Der Frühstücksraum ist angenehm leer. Fortsetzung des Stadtspaziergangs durch Brügge.

Die heutige Kathedrale St. Salvator wurde ab 1280 aus gelbem Backstein errichtet, die Spitze ihres mächtigen Westturms wurde im 19. Jahrhundert erneuert. Auf ihrer Nordseite die Triennale-Installation „Wu Wei Er Wie“ von Song Dong. Fensterflügel aus chinesischen Abbruchhäusern sind zu verschachtelten Gebilden zusammengefügt.

Im ehemaligen St. Jans-Hospital sind heute vor allem Meisterwerke von Hans Memling ausgestellt, von dem „Deutschen Hans“. Um 1433 in Seligenstadt am Main geboren, wirkte er von 1465 bis 1494 in Brügge. Seine Frau stand ihm häufig Modell.

Seit 1188 fanden in diesem Hospital, einem der ältesten in Europa, Arme und Waisen, Kranke und Pilger sowohl ärztliche als auch religiöse Fürsorge. Der große Siechensaal, in dem einst mehr als hundert Patienten lagen, wie ein Gemälde „Blick auf den alten Siechensaal“ von 1778 zeigt, war mit religiösen Bildern ausgestattet, welche z. B. die Schutzheiligen und Nothelfer darstellen, und mit Beichtstühlen. Er ist heute Ausstellungsraum für Medizingeschichte und für Kunstwerke.

Das Hauptwerk ist Memlings Schrein der hl. Ursula von 1489. Auf den Längsseiten je drei Szenen aus dem Leben der britischen Königstochter Ursula. Sie begibt sich auf eine Pilgerreise nach Rom, wird aber auf dem Rückweg in Köln von Hunnen erschlagen, zusammen mit 11 000 Jungfrauen. Die Kölner Kirchen Groß St. Martin und St. Severin sind exakt wiedergeben, sogar der Chor des Kölner Doms mit dem Drehkran auf dem Turmstumpf. Einzelne Figuren treten in einem Bild mehrfach auf: Gleichzeitigkeit einer Folge von Ereignissen. Im kleinen Triptychon für Jan Flores stellt Memling 1479 den Stifter am Rand einer Anbetung der Könige dar, der 36jährige Maler schaut dem Geschehen durch ein Fenster zu. Das Johannesretabel von 1474 stellt die mystische Vermählung der hl. Katharina dar, das Jesuskind streift ihr den Ring über. Auf den Seitentafeln Johannes der Täufer schon ohne sein Haupt und Johannes der Evangelist auf Patmos bei seiner Vision.

Ein Gruppenmitglied wartet vor der falschen Kirche, wir warten auf ihn… Die Kirche Onze Lieve Vrouwe (Liebfrauenkirche) hat den mit 122 m höchsten Kirchturm in Brügge. Die Gräber von Karl dem Kühnen und Maria von Burgund sind nicht zugänglich, dafür aber ein anderes Meisterwerk: Michelangelos Madonna mit Kind (um 1504). Eigentlich für den Hochaltar des Doms zu Siena bestellt, wurde sie nicht bezahlt und abgeholt. So verkaufte der Künstler sie an durchreisende Kaufleute aus Brügge. Zeitweise waren sie dann im Louvre zu Paris und einem Stollen im Salzkammergut. Maria ist sehr jung, sie hält die Augen geschlossen. Bewegt ist die Kleidung. Ihr Sohn ist schon ganz schön groß, seine Haltung ist manieristisch verschraubt.

Ende der Besichtigungen in Brügge; mit dem Bus nach Gent, zur Mittagspause. Vom Ausstieg beim Damport führt Herr Surges uns nicht gerade auf dem kürzesten Weg zur Pilgerkirche St. Jacob und dann auf den Freitagsmarkt. Dieser bietet ein erschreckendes Bild, das zum trüben Himmel passt. In Gent streiken die Müllarbeiter, was ein Transparent am „Ons Huis“, dem in vielen Stilformen erbauten Gewerkschaftshaus bestätigt: „De Strijd gaat door“. Die Abfälle vom heutigen Markt sind nicht weggeräumt, sondern vom Winde verweht; überall in der Stadt übervolle Mülltonnen und Berge von Abfällen.

Nach der Mittagspause z. B. mit einer Tüte aus Belgiens ältester Frittenbude, der „Frituur Josef“,  ein Rundgang.

Die Textilmetropole Gent an der Mündung der Leie in die Schelde erlebte ihre Blüte im 14. und 15. Jahrhundert. 1500 wurde hier der spätere Kaiser Karl V. geboren. Später verliert Gent den Zugang zum Meer, wird aber dann zum ersten industriellen Ballungsgebiet auf dem europäischen Kontinent. „Der Genter ist nicht zu erklären, ein Wunder, dass er noch existiert“.

Eine ochsenrot gestrichene Kanone heißt im Volksmund Dulle Griet (böse Frau)… Mitten in der Stadt eine mächtige Burg, der Gravensteen aus dem 12. Jahrhundert. Auf dem Platz davor wacht Neptun auf einem Barockportal über die Schelde (Mann) und die Leie (Frau). Die Laternen auf dem Sint-Verleplein blinken, wenn in Gent ein Kind geboren wurde.

Altstadtstraßen und schöne Treppengiebelfassaden an der Leie: die Gassen heißen Kraanlei, Graslei und Korenlei. Fleischhalle, mit Schinken unterm Holzdach, Haus des Löwen, Haus der Steinmetze, Haus der freien Schiffer, Haus der unfreien Schiffer, Zollhaus, Kornmesserhaus, Getreidespeicher usw. In einer Nische der Buxevoll, Gegenstück zu einem berühmten Knaben in Brüssel, daneben Lena und Luna, in hockender Stellung … Ein kurzer Blick in die Michaelskirche, ohne Turm, mit einer Kreuzigung von van Dyck (1630), die Schächer fehlen; und einer Kopie der Brügger Madonna von Michelangelo. Ein Blick in die Nikolauskirche mit ihrer nach oben offenen Vierung. Suche nach einem Mitreisenden.

Rückweg zum Bus, im Nieselregen, ohne den Schokoladenblick der Ansichtskarten. „Die Sonne Flanderns ist das Wetter“. Rückfahrt nach Brügge, im Regen.

Abendessen im „De Leffe“, heute im Oberstübchen mit Fahrstuhl zum Klo. Leckere Fischsuppe, überbackene Chicoreeröllchen, Dame blanche. Das Spiegelkabinett auf dem Großen Markt reagiert nicht auf die Eingabe der „8000“. Große Runde im Hotelfoyer, mit Gesangsproben. Erst ist es wie bei einem Trauerspiel, dann klappen die Einsätze, dank der aktiven Chorsänger Kalli und Barbara.

 

Samstag, 30. Mai

Unter der Tür wurde heiteres bis wolkiges Wetter durchgeschoben. Einige Langschläfer verpassen das Geburtstagsständchen für Jürgen Warzecha und werden ihre Glückwünsche verspätet los. Sigrun hat Blumen gepflückt. Dazu gibt es ein leckeres Tröpfchen und eine Spitzen-Initiale „J“ für unseren Spitzen-Jürgen.

Mit dem Bus nach Gent. Vor dem Denkmal für Francois Laurent ein zweites Ständchen für Jürgen W. Weil das NT, das neue Theater in Gent auch heute Geburtstag feiert, es besteht fünfzig Jahre, tragen die Hauptfiguren aller Denkmäler in Gent Papierhüte mit den Initialen NT.

Gruppenfoto vor dem Denkmal für die Gebrüder Hubert und Jan van Eyck, die beide heute eine Papiermütze tragen. Frauen, Männer und Kinder bringen Blumen und Kränze; das Denkmal entstand zur Weltausstellung 1913.

In der Kathedrale St. Bavo eine große Kanzel aus Marmor und Eichenholz, niederländischer Rokoko, Laurent Delvaux 1741: Darstellung des Sieges der Wahrheit über die Zeit. Putten wecken den greisen Chronos; die Allegorie der Wahrheit hält ein Buch mit der Inschrift „Surge … qui dormis et exsurge a mortuis … (Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird Christus dich erleuchten)“. Reiseleiter Surges zeigt uns noch das Rubensgemälde vom Eintritt des noch voll gerüsteten Ritters Bavo in das Kloster (1624 geliefert), die Frauen mit erschrockenem Gesichtsausdruck: was soll das Ganze?

An einer Wand zwei Einzeltafeln: Adam und Eva, anständig bekleidet für den Besuch des österreichischen Kaisers Josef II… Dann eine kleine Seitenkapelle. Dort sind Adam und Eva nackt, Bestandteile des Genter Altars. Aber auch sie sind nicht echt: Der Altar stand einst  hier, bis 1986. Jetzt steht in der Vijdkapelle eine Kopie aller Tafeln und Seiten des Altars, an der die Reiseführer das Dargestellte erklären dürfen.

In der De Villakapelle am Westeingang steht das Original, mit Ausnahme der Teile, die zur- zeit in der Sonderwerkstatt im Museum für schöne Künste restauriert werden sowie der seit 1934 verschollenen Tafel der „Gerechten Richter“. Hier ist es bedrückend voll. Laute Erklärungen sind nicht gestattet. „Im Auftrag des Joos Vijd hat Hubert van Eyck, der größte unter den Malern, diese Arbeit auf sich genommen. Sein Bruder Jan, der ihm fast gleichwertig war, vollendete den schweren Auftrag. Mit dieser Zeile vertraut der Stifter Ihnen am 6. Mai 1432 das Werk an …“  Der Altar überlebte den Bildersturm, wurde von Napoleon eingefordert und von den deutschen Nationalsozialisten beschlagnahmt und hat noch viel mehr erlebt, ein Wunder, dass es ihn noch gibt.…

Der geöffnete Altar zeigt im oberen Register Adam und Eva, singende und musizierende Engel, und in der Mitte den majestätischen Herrgott zwischen Maria und Johannes. Die unteren Felder zeigen die Anbetung des Lammes Gottes. Aus allen Richtungen kommen Menschen: Links die gerechten Richter und die Ritter Christi, rechts Eremiten und Christophorus mit einer Pilgergruppe. Im Mittelfeld die Seligen des Alten Bundes und des Neuen Bundes, Märtyrer und heilige Frauen. In der Mittelachse der von Engeln umgebene Altar mit dem Lamm Gottes und der vermutlich später hinzugefügte Taufbrunnen. Heerscharen von Theologen und Kunsthistorikern haben versucht, diese Darstellungen angemessen zu Interpretieren. Eine besonders kurze Interpretation: bisher nicht Dargestelltes wird sichtbar gemacht.

Bis zur Mittagspause ein kurzer Rundgang im Zentrum. Die Müllabfuhr holt die Reinigung der Stadt nach.

Auch die fünf Jünglinge des Georg-Minne-Brunnens tragen Papiermützen. In der Stadthalle Modenschau der Modeschule. Auf der Spitze des 95 m hohen Belfrieds der aufgespießte Drache. Am Stadtgefängnis ein Relief, der Mammelocker. Der zum Hungertod verurteilte Cimon wurde von seiner Tochter gerettet, weil sie ihn täglich an ihrer Mamme (Brust) lokken (saugen) ließ. Er wärmt ihr dafür die Brust mit seinem Bart.

Das Genter Schauspielhaus NT im Jugendstil. Flammende Gotik und schlichte Renaissance an den Fassaden der beiden Rathausbauten. In der Werengartjestratje dürfen Graffitimaler sich austoben. Mattetarten (Käsekuchen) beim Bäcker Himschot an der Fleischhalle. In der Sonne heute der schöne Blick von der Michaelsbrücke auf den Turm von St. Nikolaus, den Belfried und den Turm von St. Bavo.

Mit dem Bus zum Museum der schönen Künste. Blick in die Restaurierungswerkstatt, in der Teile des Genter Altars behandelt werden. Nach Abschluss der Arbeiten 2017 braucht der Altar einen neuen Aufstellungsort. Die Restaurierungsergebnisse sind im Internet abrufbar unter www.kik-irpa.be „Freizeit“ im Museum. Die Kreuztragung von Hieronymus Bosch. Drei spätmittelalterliche Alabastertafeln aus England, eine Alabasterpieta aus Flandern.  Minne‘s Gipsmodelle der fünf Jünglinge für das Brunnenoriginal in Hagen (heute in Essen) und für die Nachgüsse z. B. in Gent. Im Zitadellenpark Skulpturen: Dat Moorke (Mohrenkind), Gefesselte Sklaven.

Auf der Rückfahrt nach Brügge hören wir noch einige Details aus der Leidensgeschichte des Genter Altars und seiner Teile.

Letztes Abendessen im De Leffe. Jürgen W. lädt ein zu einem Glas Geburtstagssekt. Und trägt locker ein lockeres Liedchen vor: 

„Eine Hose für zehn Euro
Kauft ich mir bei C&A
Und ich ging mit ihr spazieren, 
Weil grad schönes Wetter war.
Plötzlich fing es an zu regnen,
Meine Hose wurde feucht, 
Und dann hat sie nach ‚ner Stunde
Bis zum Knie mir nur gereicht.
Und beim zweiten Mal, oh Graus,
Ward ‚ne Badehose draus.
Und beim dritten Mal, oh Schreck,
War die ganze Hose weg!
So ‚ne Hose ist zwar billig,
Aber haltbar ist sie nicht, 
Weil sie, wenn sie Einmal feucht wird, 
Keine Haltestelle kriegt:“ 

Speisezettel heute: Thunfischsalat, Tournedos mit Kroketten, Brügger Waffeln mit Schokolade und auf Nachfrage auch mit Eierlikör. Die netten Kellner freuen sich über den Briefumschlag mit Trinkgeld. Ein Schlörschluck im Café und noch eine Runde im Hotel.

 

Sonntag, 31. Mai

In der Nacht hat es geregnet. Trübes Wetter. Letztes Frühstück in Brügge. Kofferpacken und  -einladen. Die Angst vor der Bettensteuer ist unbegründet, sie war im Zimmerpreis enthalten. 9 Uhr Abfahrt.

Zwischenziel ist Ypern, flämisch Ieper. Ypern war im Mittelalter neben Brügge und Gent eine der großen flämischen Tuchstädte. Davon zeugt die Gotische Tuchhalle mit ihrer 132 m langen Schaufront und dem 70 m hohen Belfried. Unter französischer Herrschaft entstand ab 1678 die große Vaubanfestung.

 Am 4. August 1914 wurde das neutrale Belgien von der deutschen Armee überfallen, Anfang September kam der deutsche Vormarsch an der Marne zum Stehen. Es begann der grausame Stellungskrieg, in dem große Teile Belgiens und zehn Departements im Norden Frankreichs total verwüstet wurden. Vier Jahre lang befanden sich die Schlachtfelder nur wenige Kilometer von Yperns Stadtzentrum entfernt, die Schützengräben liefen im Bogen um die Stadt herum. Von der Stadt blieb nur ein Trümmerhaufen.

Nach dem Krieg kehrten die Einwohner zurück und bauten die Stadt wieder auf „mit Respekt vor der Vergangenheit“. In der Umgebung der Stadt wurden viele Soldatenfriedhöfe angelegt, für Belgier, Deutsche, Franzosen, Briten, Iren, Kanadier, US-Amerikaner, Australier, Neuseeländer… Im flämischen Westhoek um Ypern starben mehr als 550 000 Soldaten.

Ein Gedicht von John McCrae aus dem Jahr 1915 wurde zum Symbol des Gedenkens:

In Flanders Fields the poppies blow
Between the crosses, row and row, 
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.

We are the Dead. Short days ago
We lived, felt dawn, saw sunset glow,
Loved, and were loved, and now we lie
In Flanders Fields.


Take up our quarrel with the foe:
To you from failing hands we throw 
The torch; be yours to hold it high.
If you break faith with us who die
We shall not sleep, though poppies grow
In Flanders Fields.

„Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn zwischen den Kreuzen, Reihe um Reihe, die unseren Platz markieren. Und am Himmel fliegen die Lerchen, noch immer tapfer singend, unten zwischen den Kanonen kaum gehört. Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch lebten wir, fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang. Liebten und wurden geliebt, und nun liegen wir auf Flanderns Feldern. Nehmt auf unseren Streit mit dem Feind. Aus sinkender Hand werfen wir Euch die Fackel zu, die Eure sei, sie hochzuhalten. Brecht Ihr den Bund mit uns, die wir sterben, so werden wir nicht schlafen, obgleich Mohn wächst auf Flanderns Feldern.“

Auf allen Denkmälern und Soldatenfriedhöfen sehen wir Kränze mit roten Mohnblüten.

Wegen vieler Baustellen mehrere vergebliche Versuche unseres Fahrers, das Stadtzentrum von Ypern  zu erreichen, wir müssen zu Fuß vom Bahnhof zur Stadtmitte laufen.

Nur ein kurzer Blick in die nach 1918 völlig neugebaute „gotische“ Sint Maartenskathedraal, es ist gerade Messe. Ein großes Wandgemälde nur in grauen Farbtönen zeigt die verwüstete leere Landschaft Flanderns vor 100 Jahren; das riesige Gemälde von einer anderen Schlacht bei Ypern 1383 von Joris Libaert wirkt dagegen beinahe romantisch. Vorbei an den Resten der Martinsabtei und dem Rathaus zur Tuchhalle. Auf dem Dach erinnert ein Narr mit einer Katze an das Katzenwerfen: alle 3 Jahre werden aus einem Fenster der Tuchhalle (Plüsch)-Katzen hinabgeworfen; die Katzen sollten einst die Mäuseplage in den Lagerräumen der Tuchhalle bekämpfen und wurden selbst zur Plage.

Im ersten Stockwerk der Tuchhalle ist das eindrucksvolle In-Flanders-Fields-Museum eingerichtet. Hier werden der Erste Weltkrieg und die Erinnerung an diesen anhand persönlicher Zeugnisse mit modernen Techniken gezeigt. Eine Auswahl von Einzelthemen:
Julikrise 1914. Invasion. Flucht vor dem Krieg. Kriegspropaganda. Kriegsgräuel.  Schützengräben. Waffenruhe zu Weihnachten. Gefangene. Der Tod. Hinter der Front. Minen. Grabenkrieg. Gas als Waffe (1915 bei Ypern zum ersten Mal eingesetzt). Medizinische Versorgung. Panzer. Offensiven. Schlachten. Die Welt im Krieg. Zerstörungen. Entscheidungen beim Wiederaufbau. Gedenken. Erzählungen und Briefe von Soldaten, Krankenschwestern, Bewohnern…
Beeindruckend und bedrückend inszeniert. Das trübe Wetter passt zum Thema…

Am Ostrand der Stadt wurde das wiederaufgebaute Menentor, ein Teil der Vauban’schen Festungsanlagen, zu einer Gedenkstätte ausgestaltet für die mehr als 1,7 Millionen Soldaten aus den Commonwealth-Staaten, die in den beiden Weltkriegen umkamen. Seine Wände tragen die Namen von 58000 Soldaten, die bei Ypern starben und deren Gräber unbekannt sind. Viele Kränze und Gebinde mit roten Mohnblüten. Winston Churchill hatte 1919 gefordert: „I should like to acquire the whole of the ruins of Ypres; a more sacred place for the British race does not exist in the world“. Seit 1928 wird unter dem mächtigen Gewölbe des Menentores an jedem Tag, bei jedem Wetter um 20 Uhr in einer ergreifenden Zeremonie von Hornbläsern der Zapfenstreich “Last Post” geblasen; am 9. Juli 2015 erklingt der Last Post zum 30 000sten Mal. Feuerwehrkapellen auf der ganzen Welt sind aufgerufen, zum selben Zeitpunkt den Zapfenstreich erklingen zu lassen.

In den Andenkenläden manch grausamer Erinnerungskitsch: Das Gedicht In Flanders Fields auf einer Schokoladentafel, Mohnblüten auf Kaffeebechern, auf Bleistiften, auf Feuerzeugen…

Weiterfahrt im Nieselregen auf Landstraßen. Jaques Brel singt sein Chanson über die flandrischen Frauen, die tanzen, ohne zu lächeln: Le Flamands. Und dann Charles Trenet: Douce France, cher pays de mon en fance. Wir sind in Nordfrankreich, dem Land der Sch‘tis. Der berühmte Film „Willkommen bei den Sch’tis“ wurde in Bergues bei Dünkirchen gedreht.

In Lille eine riesige Reptilienskulptur auf einem Kreisverkehr. Zuerst Besichtigung des Museums im Palais Beaux-Arts.

Einige Hauptwerke der europäischen Kunst schauen wir uns gemeinsam an: „Das Martyrium der hl. Katharina“ von Rubens (nach 1615), eine „Kreuzigung“ von Van Dyck (nach 1630), eine Kreuzabnahme von Rubens (nach 1615), zwei Bilder von Goya (nach 1808) „La Lettre, dit Le Jeunes“ und „les Temps dit les Vieilles“ mit der Frage „Que tal?“ sowie Monets Gemälde vom Parlamentsgebäude in London (1904).

Das Gemälde von Hieronymus Bosch „Das Konzert im Ei“ (1480) ist in der Ausstellung zweimal zu sehen. Das Museum hat die Sonderausstellung „Le Canard Du Musée – Die Ente im Museum“ in die ständige Ausstellung integriert. Die Künstlergruppe interDuck übernahm die alte Tradition, Portraits von Tieren mit menschlichen Zügen für Moralappelle zu nutzen. Seit 1982 setzen sie dafür ganz unkonventionell die Comicfigur von Donald Duck ein. Auf bekannten Gemälden ersetzen die Künstler die Köpfe der Menschen durch Entendarstellungen. Und so entstand eine zweite Darstellung des Konzertes in der Eierschale; die strengen Mönche haben jetzt ein … Entengesicht. Die Werke der Gruppe Interduck wollen eine neue Sicht auf altvertraute Werke schaffen. Verblüffend. Überall im ernsten Museum der Schönen Künste tauchen Enten auf. Als Engel der Sixtinischen Madonna, als Herzog von Urbino, als Mädchen mit dem Perlenohrring, als Napoleon, als Goethe, als Wanderer über dem Wolkenmeer…

Es bleibt noch Zeit für eigene Erkundungen im Museum, z. B. für die Betrachtung der Bilder von James Ensor. Neu in der Sammlung sind große Modelle im Maßstab 1:600 der Festungsstädte entlang der französischen Nordgrenze: Lille, Ypern, Tournai…, aus dem 17. und 18. Jahrhundert.

Fahrt zu unserem Hotel für die nächsten drei Nächte: Das Novotel Lille Centre Grand Place liegt in der schmalen Rue de l’Hôpital Militaire. „ Kunstfreunde Lande“ haben Zimmer 215.

Vier Sterne. Drei Gänge: Chicoree-Käse-Toast, Schweinefilet mit Gratin und Ratatouille, Waffel mit Schokoladeneis. Eine Rechnung für den ganzen Tisch. Kleiner Rundgang durch die Altstadt mit Oper, Alte Börse an der Place General de Gaulle, Place Rihour: ein Getränk auf der Terrasse des Café Metropole unterm Heizstrahler. Rückweg im Mondschein.

 

Montag, 1. Juni

Üppiges Frühstücksbüffet, frisch gepresster Orangensaft, stark duftender Käse, Crepes usw.

Mit dem Bus in die frühere Zechenstadt Lens. Die ehemaligen Minengebäude und die markanten Abraumhalten gehören heute zum Weltkulturerbe. Auf einem ehemaligen Grubengelände ist ein neues Museum entstanden: Louvre Lens. Eine moderne Konstruktion aus Glas und grauem Aluminium zwischen Abraumhalden und einem modernen Stadion, wegen möglicher Bergschäden nur eingeschossig. Das Gebäude wurde von zwei japanischen Architekten entworfen, es ist von einem weiten Landschaftsgarten umgeben, der in organischen Formen gegliedert ist. Die Eröffnung war im Dezember 2012. Kurz darauf übersah eine der diesjährigen Mitreisenden ziemlich schmerzhaft, dass es in dieser grenzenlosen Architektur zwischendrin Glasscheiben gibt.

In der Galerie der Zeit werden auf einer Fläche von 120 x 30 Metern über 200 Werke aus dem Pariser Louvre gezeigt, von der Antike geht es in das Mittelalter und weiter bis zum Beginn der Moderne. Jedes Jahr werden am Barbaratag (4. Dezember) 10 % der Werke ausgetauscht. Die Anordnung in einem großen offenen Raum entlang einer Zeitschiene erschließt neue Zusammenhänge zwischen den Kunstwerken. Die Werke treten untereinander in bisher ungewohnte Bezüge. Bis Ende 2015 ist der Eintritt in die Dauerausstellung kostenlos; die Besucher müssen eine Sicherheitsschleuse passieren.

Wir werden in zwei Gruppen durch die Galerie der Zeit geführt. Die junge Julia Maaszen, in Dormagen geboren, übernimmt von Wolfgang Surges die Sprechanlage. Julia nimmt uns mit auf die Zeitreise von der Erfindung der Schrift in Mesopotamien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und stellt bekannte und unbekannte Werke vor. Anne Duquesne aus Roubaix führt die kleinere Teilgruppe ohne akustische Hilfsmittel; in dieser Gruppe kommt es zu lebhaften Diskussionen.

Eine Sonderausstellung zeigt unter dem Titel „Gold und Elfenbein“ Meisterwerke aus Paris, Pisa, Florenz und Siena aus den Jahren 1250 bis 1320.  Mittagspause im Museumscafé, es gibt bretonischen Pflaumenkuchen und Cidre, dazu spannende Ausblicke in den Garten. Wolken und blauer Himmel spiegeln sich auf den matten Aluminiumwänden, Wandflächen und Himmel gehen ohne eine sichtbare Abgrenzung ineinander über.

Auf der Rückfahrt nach Lille trainiert Sigrun Blauth mit uns das Bauchnabeleinkrempeln und Schulterkreisen und Schulterhochziehen, „noch höher, Herr ...“  „Sei kein Beton…“ 

Beginn eines Stadtspazierganges durch Lille am Komplex Eurolille. Hier haben auf 70 Hektar in einem neuen Stadtviertel bekannte Architekten „ihre Duftmarken hinterlassen“. Seit 1994 fahren vom neuen unterirdischen Bahnhof Lille Europe Eurostar-Züge durch den Kanaltunnel in einer Stunde nach London, in der anderen Richtung geht es nach Paris und Brüssel. Reisende nach Großbritannien werden wie vor einer Flugreise durchleuchtet. Der alte Kopfbahnhof Lille Flandres dient dem Regionalverkehr in Nordfrankreich. Zwischen den Stationen ausgedehnte Ladenpassagen in Bürohochhäusern.

Lille (flämisch Rijssel) ist die wichtigste Stadt im Norden Frankreichs. Mit den umliegenden Städten ist es der Mittelpunkt eines Ballungsraumes mit über einer Million Einwohnern.

Die Kirche Saint-Maurice aus dem 14. Jahrhundert erhielt ihr Chorhaupt und die drei westlichen Joche erst im 19. Jahrhundert. Sie ist eine fünfschiffige Hallenkirche, selten in Nordfrankreich. Die Achskapelle des Chorumgangs ist den Kanonieren gewidmet, dem Corps des Cannonier de Lille, das Glasfenster zeigt das entsprechende Kriegswerkzeug. Eine  Statue für Mauritz aus der thebäischen Legion, der 288 zum Märtyrer wurde. Die Holzstatue Christus an der Geiselsäule ist eine Kopie der Statue in Gemblaux/Belgien; der Christuskopf wirft im Sonnenlicht markante Schatten. Grabmal für die Gedärme von Charles Ferdinand d’Artois, Duc de Berry, der 1820 vor der Pariser Oper Opfer eines Attentates wurde; seine Reste wurden wie Reliquien über ganz Frankreich verteilt, der Theaterbau in Paris wurde abgerissen. Das Gewölbe in der Vierung der Kirche gleicht einem aufgespannten Regenschirm.

Über die Place Rihaud, hier stand einst der Palast der Herzöge von Burgund, zum Mittelpunkt der Stadt, der Place du General de Gaulle, der 1890 in Lille das Licht der Welt erblickte und für den die Grand Place ihren vertrauten Namen hergeben musste. Hier steht die Alte Börse aus dem 17. Jahrhundert; die roten und gelben Farbtöne spiegeln den zeitgenössischen österreichischen Geschmack wieder. Das Art-Deco Gebäude der Zeitung La Voix du Nord wird von drei vergoldeten Damen gekrönt, welche die nördlichen Regionen Hainot, Artois und Picardie verkörpern. Mitten auf dem Platz eine Säule mit der Göttin Déesse, zur Erinnerung an die Belagerung von Lille durch österreichische Truppen 1792.  Am Opernplatz das Gebäude der Industrie- und Handelskammer mit seinem Belfried, errichtet bis 1921. Und die Oper, 1904 begonnen, im 1. Weltkrieg zeitweise als Deutsches Theater betrieben, 1923 endgültig eröffnet.

Durch belebte Geschäftsstraßen zur Kathedrale Notre-Dame de la Treille, begonnen 1854, Westfassadenweihe 1999. Die Pläne von einer idealen gotischen Kathedrale konnten nicht realisiert werden, ein Turmstumpf neigte sich, deshalb baute man 1874 vor der Südfront einen Campanile, und die große Doppelturmfassade im Westen blieb ein Traum. Als Notlösung entstand als Westabschluss des Langhauses eine flache, aber sehr  eindrucksvolle Westfassade: hinter einer Stahlverspannung eine hohe Wand aus durchscheinendem Marmor in der Form eines gotischen Spitzbogens; nur aufgebrochen durch ein kreisrundes Fester mit Glasmalereien, in denen man viele christliche Motive entdecken kann.

Pause mit Kaffee oder Ch’ti-Bier auf der Terrasse der Bar gegenüber der Westfassade mit dem mehrdeutigen Namen Aux Deux Cocottes. Calvados-Einkauf im Supermarkt Carrefour, lange Schlangen an der Kasse, Alkoholika dürfen in Frankreich nicht mit Karte bezahlt werden.

Abendmenü: Wachteleier im Lachsröllchen, Entenkeule mit Pellkartoffeln und Ratatouille, und zur Freude von Karin Land creme brulée. Noch ein kleiner Stadtrundgang und eine Abschlussrunde in N-Café in unserem Novotel.

 

Dienstag, 2. Juni

Nach dem üppigen Frühstücksbüffet im gewohnt trüben Wetter zur Zitadelle von Lille. Ludwig XIV. eroberte die Stadt im August 1667 für Frankreich. Sebastien Le Prestre de Vauban (1633-1707) plante eine Folge von Festungen, um die Grenzen Frankreichs zu sichern. Seine Zitadelle von Lille galt als Königin der Zitadellen (reine des citadelles). Im Zentrum befindet sich ein fünfeckiger Exerzierplatz, zu Ehren des Sonnenkönigs wie eine zehnstrahlige Sonne gepflastert. Seine fünf Seiten sind von Kasernen, Werkstätten Versorgungseinrichtungen und Arsenalen umgeben, welche zusammen eine Kleinstadt bilden. Auf den fünf Ecken fünf starke Bastionen. Außerhalb noch ein Kranz von Vorwerken. Keine Bastion, die nicht von einer benachbarten Bastion aus gedeckt werden könnte. Der Zwischenraum konnte notfalls geflutet werden, Wasser als wichtiges Verteidigungsmittel. Der Umfang beträgt mehr als zwei Kilometer; die früher baum- und strauchlosen  Vorfeldflächen sind heute ein schöner Park mit vielen Attraktionen.

 Am Eingang ein seltsames Denkmal, Au Pigeon Voyageur, es soll an die Brieftauben erinnern, die im Ersten Weltkrieg für die Nachrichtenübermittlung eingesetzt wurden:. Welch ein Widerspruch: Das Friedenssymbol ist kriegswichtig geworden. Und noch eine Inschrift: „Aux colombophiles morts“.

Spaziergang auf dem Weg zwischen den äußeren Vorwerken und der Zitadelle selbst mit ihren Bastionen. Ein Blick über den Wassergraben auf das Königstor, den einzigen Zugang zur inneren Zitadelle, dessen Dekoration natürlich den Sieg des Sonnenkönigs feiert. Diese innere Zitadelle wird seit dem Juli 2005 genutzt als Hauptquartier der schnellen Eingreiftruppe RRC (Rapid Reactions Corps France) der NATO.

Weiterfahrt am Deȗle-Kanal entlang. Die gedeckte Brücke Pont Napoleon wurde erst 2014 wieder eröffnet, vier Sphinxen bewachen die Treppenaufgänge. Durch Vorstädte in den Nachbarort Roubaix.

Roubaix ist eine der vielen Problemstädte in Frankreich. Hier gelang es, unter dem Motto La Ville renovée, die erneuerte Stadt, alte Industriebauten sinnvoll neu zu nutzen. Ehemalige Textilmanufakturen wurden zu einem Einkaufszentrum mit Outlet-Läden umgestaltet, die Fabrik von Louis Motte-Bossut ist heute das Zentralarchiv für die Welt der Arbeit.

Das Rathaus, Anfang des 20. Jahrhunderts vom Architekten des Pariser Gare d’Orsay errichtet, zeigt einen Fries mit den Stufen der Textilbearbeitung als Comics: Baumwollpflücken und Schafscheren, Wollkämmen, Fadenherstellen, Weben, Färben, Transportieren. Gegenüber die Kirche Saint-Martin, eine Hallenkirche aus dem 14. Jahrhundert, die im 19. Jahrhundert zu einer fünfschiffigen Kirche erweitert wurde, mit einem Johannes-der-Täufer-Altar aus Mecheln aus dem 16. Jahrhundert.

Der Architekt Albert Baert baute 1932 in Roubaix „das schönste Hallenschwimmbad Frankreich“ im Art-deco-Stil als Soziale Anstalt für die Textilarbeiter. 1985 musste der Badebetrieb eingestellt werden. Jean-Paul Philippon, der in Paris den Gare d’Orsay zum Museum umgebaut hatte, verwandelte 2001 La Piscine in das André-Diligent-Kunst-und-Industriemuseum. Ausgestellt sind Gemälde und Skulpturen sowie Textilien, Kleidung, Assessoires und Möbel aus der Industriegeschichte der Stadt Roubaix.

Die zweistöckige Schwimmhalle blieb erhalten, aus einem Brunnen lässt Neptun mit einem löwenhaften Kopf ständig Wasser in das Becken sprudeln und ab und zu verbreiten Lautsprecher den Lärm, den Kinder in einem Schwimmbad machen. Entlang der Beckenränder sind Skulpturen aufgestellt. Die ehemaligen Dusch- und Umkleidezellen wurden zu kleinen Kabinetten für einzelne Kunstwerke und Objekte aus der Textilgeschichte. Zwei halbrunde Fenster stellen die Sonne dar. Der Innenhof zeigt Pflanzen, die zur Textilherstellung dienen, auch große rote Mohnblüten. Am Eingang eine riesige Bronzespinne von Lydie Arickx.

Der Nachmittag ist ohne Programm und bietet Gelegenheit zu einem Bummel durch La Vieille Ville de Lille. Es locken Cafés wie das Merveilleux Meert, Delikatessengeschäfte wie das Käsegeschäft Philippe Olivier, l’affineur des fromages, oder Kneipen wie das Le Chopp’ing, welches „18 bières pression“, 18 Sorten Bier vom Fass anbietet, „5 € la Pinte“. Der Kleinbus La navette du Vieux-Lille fährt auf einer Ringstrecke um die Altstadt und hält auf Verlangen.

Letztes Drei-Gänge-Abendessen: Melone mit Schinken, Hähnchenbrust mit Kartoffelgratin und wieder Ratatouille, Obstsalat ohne Verfeinerung.

Die Gruppe bedankt sich bei Helga Smits mit einem bunten Schal für die Vorarbeiten für diese Reise, und mit gefüllten Briefumschlägen bei Reiseleiter Wolfgang Surges und bei Fahrer Frank. Jürgen W. trägt zwei Liedchen vor, das vom Apfelwein mit dem Fahrstuhl und das Lied von Rosa.

Auf dem Platz vor der Oper wird die heutige Aufführung von Puccinis Madame Butterfly direkt auf eine Großleinwand übertragen (und das gleichzeitig auf Plätzen in neun anderen nordfranzösischen und belgischen Städten), die Stadtbummler erleben in der Abenddämmerung die zweite Hälfte der Oper inmitten einiger Tausend begeisterter Zuschauer mit. Ein eindrucksvoller Abschiedsabend! Und dann findet sich noch eine Runde zu einer Calvados-Runde auf dem Hotelzimmer 215 zusammen.

 

Mittwoch, 3. Juni

Rückreisetag. Das Wetter wird besser und wärmer. Zum letzten Mal das tolle Frühstücksbüffet. Koffereinladen. Zurück nach Belgien, man erkennt das Land sofort an den Lichtmasten auf dem Mittelstreifen der Autobahnen.

Spaziergang durch Tournai (Doorik). Tournai ist die zweitälteste Stadt in Belgien. Im 5. Jahrhundert residierte hier der Merowingerkönig Childerich I. Die Stadt ist berühmt für ihre Tapisserien und feine Textilien; Handschuhe wurden so fein gewirkt, dass sie in eine Nussschale passten. Romanische Kirche St. Quentin mit den Resten von Gewölbemalereien. Großer Platz mit gotischer Tuchhalle, überall Fahnen der mittelalterlichen Gilden. Denkmal für die Rasende Christine: Christine de Lalaing spielte 1581 bei der Belagerung von Tournai durch die Spanier eine ähnliche Rolle wie die Johanna bei Orleans. Sie organisierte für ihren abwesenden Mann die Verteidigung der Stadt; sie hält ein Beil in ihrer Rechten. Dann und wann heftig sprudelnde Fontänen mitten auf dem Markt.

Der älteste Belfried Belgiens, um 1200 aus Blaustein erbaut, mit dem aufgespießten Drachen in 72 m Höhe. Denkmal für den 1399 in der damals flämischen Stadt geborenen Maler Rogier van der Weyden (Marcel Molfers 1935). Rogier zeichnet Maria und ihr Kind.

Die Kathedrale Notre-Dame wurde im Wesentlichen im 12. und 13. Jahrhundert erbaut und gehört zum Weltkulturerbe. Sie ist die größte Kirche in Belgien. Fünf 83 m hochaufragende Türme am Schnittpunkt von Längsschiff und Querschiff. Schwere Schäden durch einen Tornado im Sommer 1999. Seitdem Generalsanierung bis 2017, nur Teilbereiche sind zugänglich, jedoch nicht die romanischen Wandskulpturen und Wandmalereien. Nur zu ahnen der von französischen Kathedralen inspirierte gotische Hochchor. Im Vorraum ein anschauliches hölzernes Kirchenmodell, zusammengeklebt aus lauter Wäscheklammerhälften, die Maßwerkteile sind aus Sperrholz ausgesägt.

Das Rückwärtsausfahren vom Busparkplatz ist nicht einfach, doch Frank Rollmann schafft es souverän. Weiterfahrt durch die Borinage, eine ehemalige Bergwerks- und Eisenhüttenregion, einst als pays noir verschrieen; schwarz waren die Abraumkegel, und schwarz waren die Menschen, wenn sie aus den Gruben kamen. Hier scheiterte Vincenz van Gogh als Prediger, er begann die Menschen zu zeichnen. Wolfgang Surges liest aus einigen seiner Briefe.

Mons, die Hauptstadt der Provinz Hainaut (Bergen im Hennegau), Kulturhauptstadt Europas 2015, ist unser letztes Ziel. In der Stadt sind das militärische Hauptquartier der NATO und das Datenzentrum von Google. Der neue von Santiago Calavatra entworfene Bahnhof ist im Bau. Überall in der Stadt Literaturzitate auf den Wegen und an Mauern, z. B. Gedichte von Paul Verlaine. Reiseleiter Wolfgang Surges beauftragt drei männliche Reiseteilnehmer und den Fahrer mit außergewöhnlichen Transportaufgaben. Sie schleppen volle Taschen und einen Biergartentisch zum Park beim Belfried hoch.

Die Anderen besichtigen indessen die Stiftskirche Sainte-Waudru. Waltraud von Mons gründete das Stift im 7. Jahrhundert. Die spätgotische Kirche wurde 1460-1589 errichtet, ohne Turm: geplant war einer von 190 m Höhe… Der Renaissance-Komponist Orlando di Lasso, 1532 in Mons geboren, sang hier als Chorknabe. Relikte eines Lettners aus Alabaster: Waltraud überwacht die Steinmetzen. Der Goldene Wagen trägt jedes Jahr am Sonntag nach Pfingsten den Reliquienschrein der hl. Waltraud und wird von einem Pferdegespann durch die Stadt gezogen; in einer steilen Straße müssen die Gläubigen kräftig nachschieben. Die Prozession gibt es seit 1352, weil die Hl. Waltraud die Stadt 1349 vor der Pest gerettet haben soll.

Mit der Prozession ist die Kirmes Ducasse de Mons verbunden, der Doudou. Auf der Grand Place wird der Kampf Georgs mit einem 10 Meter langen Drachen nachgespielt; die Menschen versuchen, ein Haar des Pferdeschweifes zu erhaschen, den der Drache trägt, das soll Ihnen Glück bringen. Am Rathaus aus dem 16. Jahrhundert wird der Affean verschiedenen deshalb blanken Stellen mit der linken Hand gestreichelt, auch dann wird man Glück haben…

Etwas erhöht steht der barocke Belfried, 1661-1672 erbaut, 87 m hoch, 49 Glocken. Victor Hugo spottete, er sehe aus wie eine Kaffeekanne. Daneben ein kleiner Park mit großer Aussicht, die Jardins du Beffroi.

Und hier… steht ein Tisch, mit Allem, was man für ein Picknick braucht. Das haben die besagten Männer hierhin hochgetragen und aufgebaut. Wolfgang Surges hat eingekauft: Baguette, verschiedene Käsesorten, z. B. Tomme au Jurançon, Chavignol, Fromage-sans-nom, Saint-Philippe. Und dazu passend fünf Sorten Bier: Hoegarden, Ch’ti, Düwel, Bush und Westmalle.

Eine gelungene Überraschung in der Mittagssonne, die eigentlich schon für Gent geplant war. So wird es ein schöner Abschluss einer Studienfahrt mit vielen neuen Eindrücken. Paul und Karin sowie Ingrid und Jürgen erleben eine weitere Überraschung: ein zufällig vorbeispazierendes Ehepaar entpuppt sich als gemeinsame Studienfreunde aus Bonn.

Gegen Viertel nach Drei Weiterfahrt; Kopfhörereinsammeln. Vor seinem Ausstieg bei Aachen verteilt Wolfgang Surges noch flämische Rezepte und eine Literaturliste. Und dank der „ruhigen Hand“ unseres Fahrers Frank Rollmann erreichen wir Düsseldorf gegen 19 Uhr. 

„Die schönen Tage von … Flandern sind vorbei“. 

Herzlichen Dank an Alle, die bei der Vorbereitung und Durchführung der Reise mitgeholfen haben, vor allem an Helga Smits! 

 

Paul Land, Juni 2015

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